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Therapeutische Wertfreiheit

  • Autorenbild: Julia Löwe
    Julia Löwe
  • 7. Jan.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Jan.

Dem Menschen vor mir im Hier und Jetzt begegnen


In meiner Arbeit als Heilpraktikerin für Psychotherapie erlebe ich immer wieder, wie Menschen mit einer tiefen, oftmals auch nur subjektiven Schuld zu mir kommen. Sie fühlen sich schuldig für ihre Handlungen, für Verletzungen, die sie anderen zugefügt haben, oder für Fehler, die sie nicht ungeschehen machen können. Diese Last prägt oft nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihr Selbstwertgefühl und ihre gesamte Lebensweise. Als Therapeutin begegne ich diesen Menschen mit dem zentralen Prinzip der therapeutische Wertfreiheit.


Doch was bedeutet das genau – vor allem, wenn wir von schwerwiegenden Taten oder Konflikten sprechen?


Wertfreiheit in der Therapie bedeutet keineswegs Gleichgültigkeit, oder dass ich jede Tat oder jedes Verhalten gutheiße. Es gibt Handlungen, die ich persönlich klar verurteile, die auch gesellschaftlich ganz klar verurteilenswert sind. Ob es sich um Straftaten, Lügen oder Handlungen handelt, die andere Menschen verletzt haben: Diese Taten bleiben Unrecht. In der Therapie geht es nicht darum Taten zu entschuldigen. Aber meine Aufgabe als Therapeutin ist nicht, Richterin zu sein. Ich bin nicht da, um ein Urteil über vergangene Handlungen zu fällen. Stattdessen bin ich da, um dem Menschen zu begegnen, der heute vor mir sitzt – mit all seinen Erfahrungen, Kämpfen und der Bereitschaft, etwas zu verändern.


Wenn Vergangenes das Gefühl der Scham nach sich zieht, wird es häufig schwierig: Scham ist das Gefühl, das Menschen davon abhält, sich in der Therapie vollständig zu öffnen – besonders, wenn es um Themen wie eigene Schuld, Versagen oder schwierige Entscheidungen geht. Doch gerade diese Themen sind es, die es verdienen, ans Licht gebracht und bearbeitet zu werden. Scham bindet Energie, die für den Heilungsprozess notwendig ist, und verstärkt oft das Gefühl, allein mit der eigenen Last zu sein. In der Therapie geht es nicht darum, bewertet oder verurteilt zu werden, sondern einen Raum zu schaffen, in dem alles ausgesprochen werden darf. Indem wir uns den Themen stellen, die am meisten Scham auslösen, brechen wir den Kreislauf aus Schuld und Selbstvorwürfen und schaffen Raum für Selbstmitgefühl und Veränderung. Es ist dieser Schritt, sich trotz Scham zu öffnen, der den Grundstein für die Verarbeitung legt.


Es gibt auch Klient*innen die Scham empfinden, obwohl sie keinerlei Schuld daran tragen, Opfer geworden zu sein. Diese Scham entsteht häufig aus dem Gefühl, schwach gewesen zu sein oder nicht genug getan zu haben, um die Situation zu verhindern. Dabei liegt die Verantwortung niemals beim Opfer, sondern ausschließlich bei demjenigen, der die Tat begangen hat. In der Therapie ist es wichtig, diesen Mechanismus zu erkennen und den Betroffenen zu helfen, sich von der unberechtigten Last der Schuld zu befreien. Durch die Bearbeitung solcher Gefühle können sie wieder zu einem gesunden Selbstwert finden.


Noch einmal zu den Taten die Klient*innen begangen haben: Besonders, aber natürlich nicht nur, im Kontext von Abhängigkeitserkrankungen, z.B. bei der MPU-Beratung, wird die therapeutische Wertfreiheit häufig auf die Probe gestellt. Menschen, die durch ihre Sucht geleitet wurden, haben oft Entscheidungen getroffen, die sie heute bereuen. Sie fühlen sich schuldig für verletzte Beziehungen, zerstörtes Vertrauen oder für den Schaden, den sie anderen und sich selbst zugefügt haben. In diesem Raum, in dem ich mit ihnen arbeite, geht es jedoch nicht darum, die Vergangenheit ungeschehen zu machen oder die Tat zu entschuldigen. Es geht darum, den Menschen zu sehen, der sich ändern möchte. Meine Aufgabe ist es, zu verstehen: Was hat diese Person an diesen Punkt gebracht? Welche Schmerzen, Konflikte oder Umstände haben dazu geführt, dass sie so gehandelt hat? Und wie kann sie nun den Weg in eine neue Richtung finden?


Therapie findet immer im Hier und Jetzt statt. Vergangenes können wir nicht ändern, aber wir können uns damit auseinandersetzen, es verarbeiten und daran wachsen. Wertfreiheit bedeutet, dem Menschen die Chance zu geben, sich selbst zu begegnen – ohne ständig von seiner Vergangenheit erdrückt zu werden. Das bedeutet nicht, die Verantwortung für vergangene Taten abzunehmen. Es bedeutet vielmehr, gemeinsam herauszufinden, wie Verantwortung übernommen werden kann: Sei es durch Einsicht, eine echte Entschuldigung oder die aktive Entscheidung, in Zukunft anders zu handeln. Ohne Wertfreiheit würde Therapie nicht funktionieren. Wenn ich meine Klient*innen mit Vorurteilen oder Verurteilungen konfrontiere, verschließe ich ihnen den Raum, in dem sie sich öffnen und ehrlich mit sich selbst sein können. Wertfreiheit schafft Vertrauen, und Vertrauen ist die Grundlage jeder Veränderung. In der Therapie begegnen wir nicht der Tat, sondern dem Menschen, der sie begangen hat. Es geht mir auch darum, dass niemand auf eine einzige Handlung reduziert werden sollte. Jeder Mensch trägt die wunderbare Fähigkeit in sich, zu wachsen, sich zu entwickeln und neue Wege zu gehen – und als Therapeutin sehe ich es als meine Aufgabe, diesen Prozess zu begleiten.


Bei einer persönlich tiefer empfundenen Schuld halte ich es für unangebracht, stark auf Techniken wie Framing oder kognitive Umdeutung zu setzen. Schuld ist oft nicht nur eine Frage der Perspektive, sondern ein zutiefst persönliches und emotionales Erleben, das sich nicht durch rein rationale Ansätze auflösen lässt.

Statt die Schuld lediglich in ein "anderes Licht" zu rücken, ist es entscheidend, ihren Ursprung zu verstehen, ihr Raum zu geben und sie anzunehmen. Es geht darum, die zugrunde liegenden Werte, Erwartungen und Beziehungen zu erkunden, die diese Schuld geprägt haben. Nur durch ehrliche Auseinandersetzung, Mitgefühl und eine authentische Verarbeitung kann ein echter Verarbeitungsprozess angestoßen werden.

In meiner Arbeit steht daher nicht das Umschreiben von Gefühlen im Vordergrund, sondern das Verstehen und Verarbeiten, damit Versöhnung, mit sich selbst und anderen, möglich wird.


Natürlich gibt es auch Taten, die stark betroffene Menschen oft dann selbst stark traumatisierte Opfer hinterlassen. Auch hier wieder ein Beispiel aus der Abhängigkeit: Jemand war wegen Beschaffungskriminalität in Haft und hat sich durch intensive Therapie ein neues Leben aufgebaut, beispielsweise als Sozialarbeiter. Das ist ohne Frage eine beeindruckende Leistung. Dennoch halte ich es für unpassend, die Tat durch Framing zu relativieren, indem man etwa fragt: "Wer wäre ich heute ohne diese Tat?" Eine solche Sichtweise ist meiner Meinung nach zynisch, da sie das Leid der Opfer ausblendet und die Tat indirekt rechtfertigt. Ich sehe es so, dass das kein hilfreicher Ausgangspunkt für Therapie sind darf.

Stattdessen arbeite ich mit Ansätzen, die sich auf echte Verantwortung und Wiedergutmachung konzentrieren, wie:


Reflexion und Akzeptanz: Die Tat als Teil der Vergangenheit anerkennen, ohne sie zu verharmlosen oder zu glorifizieren.

Verantwortung übernehmen: Aktiv reflektieren, wie das eigene Handeln andere verletzt hat, und Schritte zu echter Wiedergutmachung finden.

Neuausrichtung: Den Blick auf das jetzige Leben richten und eigene Werte und Ziele festigen, um eine nachhaltige Veränderung zu fördern.

Mitgefühl entwickeln: Sowohl für sich selbst als auch für das Opfer, um Heilung auf beiden Seiten zu ermöglichen.

Diese Ansätze ermöglichen es, die Vergangenheit zu verarbeiten, ohne sie umzudeuten oder zu beschönigen, und schaffen eine Basis für ein bewussteres, verantwortungsvolles Leben.


Ich möchte an dieser Stelle auch auf meine ganz persönliche Entscheidung eingehen weshalb ich mich gerade dafür entschieden habe, als Therapeutin mit Menschen zu arbeiten, die sich unter Umständen schuldig gemacht haben, statt vielleicht als Richterin über sie zu urteilen. Als Therapeutin kann ich die Menschen auf ihrem Weg begleiten, ihre Schuld zu verstehen, Verantwortung zu übernehmen und sie auf ihrem Weg begleiten, sich nachhaltig zu verändern. Dieser Prozess ist für mich ganz persönlich gesprochen der bedeutungsvollere, als ein Urteil zu fällen. Ein Urteil ist für die Opfer, für unsere Gesellschaft und am Ende auch für den Täter unglaublich wichtig, es aber oft nur das Ende eines Kapitels. Die Gerechtigkeit für die Opfer ist mir an dieser Stelle von aller größter Bedeutung, ihr Leid darf niemals relativiert oder vergessen werden. Ich meine jedoch, dass echte Gerechtigkeit auch darin liegt, in den Tätern die Veränderung zu ermöglichen, um künftiges Leid auf allen Seiten zu verhindern und die Verantwortung, die sie tragen, auch ohne Framing in etwas Positives zu wandeln.


Zum Schluss ein Fazit: Die therapeutische Wertfreiheit bedeutet, den Menschen im Hier und Jetzt zu sehen, ohne die Vergangenheit zu leugnen. Sie bedeutet, dem Menschen Raum zu geben, Verantwortung zu übernehmen, und gleichzeitig einen sicheren Ort zu schaffen, an dem er neue Wege gehen kann. Sobald jemand bereit ist, sich seinen Schatten zu stellen und sich zu verändern, dann verdient er es, in diesem Moment wertfrei und mit Mitgefühl behandelt zu werden. Nur so kann der Weg der psychischen Verarbeitung und der Veränderung beginnen.



 
 
 

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