Echte Begegnung statt digitaler Simulation: Warum die KI Trauerprozesse nicht ersetzen kann
- Julia Löwe
- 19. Okt.
- 5 Min. Lesezeit

Stellen Sie sich einmal vor, Ihre verstorbene Partnerin könnte Ihnen noch einmal etwas sagen. Ihre Stimme, ihre Mimik, ihre typischen Gesten, das alles wäre für einen Moment wieder da. Solche Szenarien sind mittlerweile keine Zukunftsvisionen mehr. Sie werden möglich gemacht durch KI. Deepfakes, Chatbots und Avatare, die auf Daten der Verstorbenen basieren, versprechen uns Trost, Nähe und sogar „Gespräche“ mit jenen, die gegangen sind.
Für all diejenigen die im Thema nicht so tief drin sind:
Ein Deepfake ist ein künstlich erstelltes Bild, ein Video oder eine Tonaufnahme, erstellt mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI). Damit kann man jemanden so erscheinen lassen, als hätte er oder sie etwas getan oder gesagt, was tatsächlich nie passiert ist. Im Fall der KI-gestützten Trauerarbeit könnte diese Person in einem Video beispielsweise an wichtigen Familienfeiern, wie etwa einer Hochzeit, teilnehmen.
Ein Chatbot ist ein Computerprogramm, das so entwickelt wurde, dass es automatisch auf Fragen oder Nachrichten antwortet, also ähnlich wie ein Mensch in einem Gespräch.
Ein Avatar in der KI-gestützten Trauerarbeit ist eine digitale Nachbildung, der eine verstorbene Person, ihr Aussehen, die Stimme oder das Verhalten nachahmt. So kann sie den Eindruck erwecken, als sei der Mensch noch ansprechbar oder sogar „digital anwesend“.
Ich persönlich finde: Was auf den ersten Blick wie eine technologische Sensation wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen auch als psychologisch problematisch.
Denn inzwischen bieten mehrere Start-ups und Tech-Unternehmen sogenannte Grief (engl. Trauer) Tech-Anwendungen an. Mithilfe von Sprachaufnahmen, Fotos, Textnachrichten und Social-Media-Inhalten wird hierbei eine Simulation der verstorbenen Person erschaffen. Hinter der Benutzeroberfläche steht ein einfacher KI-gesteuerter Chatbot. Er antwortet auf Knopfdruck, spielt Sprachnachrichten ab oder lässt die verstorbene Person sogar per Video „erscheinen“.
Diese Angebote richten sich vor allem an Trauernde, die im Trauerprozess ihre Angehörigen nicht loslassen können oder wollen und sie werben insgesamt mit dem Versprechen, den Schmerz des Verlusts zu lindern.
Doch ist das wirklich Trauerarbeit? Oder bloß eine technisierte Form der Vermeidung und Stagnation?
In meiner Arbeit begegne ich häufig auch den Menschen, die nach einem schweren Verlust Halt suchen. Für mich als Psychotherapeutin ist die menschliche Trauer ein notwendiger seelischer Prozess. Sie ist individuell, schmerzhaft und sie braucht Zeit. In der psychotherapeutischen Begleitung ermöglichen wir es dem*der Trauernden, den Verlust zu realisieren, schrittweise zu integrieren und eine neue Lebensperspektive zu entwickeln.
Hierbei arbeiten wir gemeinsam die verschiedenen Phasen der Trauer durch. Die 5 bekannten Phasen der Trauer wurden von der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross beschrieben. In der Trauerarbeit richten wir uns an diesem anerkannten Model aus.
Diese Phasen: Schock, Verleugnung, Wut, Verhandeln, Traurigkeit und schließlich Akzeptanz verlaufen nicht immer linear und können sich wiederholen oder überlappen. Jede Phase hat ihre eigene Bedeutung und Funktion im Prozess des Abschiednehmens. Ziel in der Psychotherapie ist es, Raum für Gefühle zu schaffen, Orientierung zu geben und den individuellen Weg der Verarbeitung zu unterstützen und zwar in dem Tempo und auf die Weise, die für die trauernde Person stimmig ist.
Eine KI-Simulation jedoch verhindert genau diesen Prozess. Sie hält die Illusion aufrecht, dass der*die Verstorbene noch da sei. Was kurzfristig als Trost empfunden wird, kann langfristig zu einer emotionalen Fixierung führen und ein Verharren in einer Vergangenheit auslösen, die nicht mehr existiert.
Die Risiken im Überblick:
• Verdrängung statt Verarbeitung: KI kann als Vermeidungsstrategie genutzt werden, um dem eigentlichen Schmerz aus dem Weg zu gehen.
• Verlust der Realität: Die Simulation ersetzt keine Beziehung, denn sie produziert eine Illusion, die das reale Erleben der Endgültigkeit des Todes untergräbt.
• Verzögerte Trauerverarbeitung: Es kann passieren, dass je länger man sich an die KI „klammert“, desto schwerer die Ablösung fällt.
• Gefahr der Abhängigkeit: Besonders bei vulnerablen Personen kann die ständige Verfügbarkeit des KI-„Avatars“ zu einer emotionalen Abhängigkeit führen.
• Auswirkungen auf das Gehirn: Die Nutzung von KI kann die Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin und Serotonin beeinflussen. Dopamin sorgt für kurzfristige Glücksgefühle und Belohnung, während Serotonin für Stabilität und Wohlbefinden wichtig ist. Die wiederholte Nutzung der KI kann dazu führen, dass das Gehirn sich an diese künstlichen „Trostmomente“ gewöhnt, was die natürliche Trauerverarbeitung erschweren und das langfristige emotionale Gleichgewicht stören kann.
In der psychotherapeutischen Trauerbegleitung arbeiten wir nicht mit Simulationen, sondern mit inneren Bildern, Erinnerungen und Emotionen. Wir schaffen Raum für Traurigkeit, Wut, Schuld und Liebe, ohne diese digital zu konservieren. Ziel ist es, dem Verlust einen Platz im Leben zu geben, statt ihn mit technischen Mitteln zu umgehen.
Im Unterschied zur KI, die „antwortet“, höre ich wirklich zu. Ich frage nach, begleite durch Rückschritte, helfe mit bei Wandlung. Es geht um die Beziehung zur eigenen Gefühlswelt, und nicht zu einer programmierten Projektion.
Wir müssen uns fragen, warum die Faszination für KI-Simulationen Verstorbener schon jetzt so groß ist. Wollen wir unsere Toten unsterblich machen? Oder fürchten wir uns davor, sie loszulassen? Und wenn wir es nicht tun, was kostet uns das auf Dauer?
Die moderne Technologie kann in der Trauer unterstützen, etwa durch digitale Erinnerungsalben oder mit Tools zur Selbstreflexion. Aber wenn sie zur Verdrängungsmaschine wird, laufen wir Gefahr, unsere seelischen Prozesse nicht mehr wahrzunehmen und zuzulassen.
Denn die KI kennt keine Trauer, wir schon. Wenn wir Menschen verlernen, wirklich zu trauern, verlieren wir dann nicht einen zentralen Teil unseres Menschseins? Trauer ist kein Fehler, sondern ein natürlicher Prozess, durch den wir Verlust verarbeiten, Beziehungen innerlich abschließen und auch wieder ins Leben zurückfinden. Wenn KI diesen Prozess „übernimmt“ oder betäubt, etwa, indem sie uns den Schmerz abnimmt oder die Illusion von Nähe aufrechterhält, dann bleiben sehr wichtige, menschliche, seelische Erfahrungen aus. Wir erfahren dann weniger über Loslassen, Endlichkeit und Mitgefühl, und ich habe die Sorge, dass wir riskieren, dann insgesamt emotional oberflächlicher und abhängiger von künstlichen Tröstungen zu werden.
Langfristig könnte das dazu führen, dass unsere Fähigkeit, echte Bindungen einzugehen, Empathie zu empfinden und Sinn im Verlust zu finden, geschwächt wird.
Ich habe die Befürchtung: Ohne Trauer verlieren wir den Zugang zu unserer Tiefe und damit zu einem Stück unserer Menschlichkeit.
Die Digitalisierung des Todes stellt uns also vor neue ethische und psychologische Herausforderungen, weil sie traditionelle Vorstellungen von Trauer, Abschied und Erinnern verändert. Digitale Nachbildungen Verstorbener, wie KI-Avatare, können Illusionen erzeugen, die den natürlichen Trauerprozess stören, zu emotionaler Abhängigkeit führen oder die Akzeptanz des Verlusts erschweren und übrigens: gleichzeitig werfen sie auch die Fragen nach Würde, Privatsphäre und dem richtigen Umgang mit den Daten Verstorbener auf. Fern ab der Frage nach der Psyche der Hinterbliebenen finde ich auch, die digitale Trauerarbeit fordet unser Verständnis von Menschlichkeit, Nähe und Sterblichkeit grundlegend heraus.
Ich bin der Meinung: Was uns heilt, ist nicht das Gespräch mit einem digitalen Avatar, sondern der Weg durch den Schmerz, begleitet von echten Menschen, echter Beziehung und in diesem Prozess auch echter Veränderung.
Trauer sollte, daran glaube ich fest, nicht ausgelagert werden, denn sie gehört zu unserer Menschlichkeit. Und sie verdient im Akutfall unsere ganze Aufmerksamkeit, denn anders ist Verarbeitung nicht möglich.




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